Schauspiel am Osttor
Die verrauchte Dunkelheit der Nacht liegt noch über dem Osttor der Stadt und hüllt das, was man als furchteinflößende Invasion betitelt hatte, in ihren Schleier. Was hatte man sich Sorgen gemacht über eine Armee, die über hunderte von Evet entfernt schon anhand ihrer Staubwolke zu sehen war und Bet-Narekem angeblich ohne jegliche Gegenwehr erobert hatte. Und jetzt scheint es so, als wenn man diesen übermächtigen Feind in seine Schranken gewiesen hätte und das obwohl die Feigheit eines einzelnen dazu geführt hatte, das die Bestien ungehindert in die Stadt eindringen konnten. Zumindest sprechen die Bürger Gilgats so über den Chirà der Kronregentin, der die Goldenen Stadt ihrem Untergang nahe bringen wollte.
Leicht sind am Horizont über dem Osttor schon die ersten Schimmer der aufgehenden Sonne zu sehen, als dort oben auf der Mauer eine schemenhafte Gestalt auftaucht. Delvans Feuer hat noch nicht genug Kraft um zu entlarven, wer sich über den Barrikaden der Bestien aufstellt, für jeden Gilgater sichtbar. Verschwommen kann man erkennen, wie sich die Gestalt an das Gesicht fast und nur wenige Augenblicke später unterbricht eine kräftige, triumphale Stimme das Schweigen, mit einem den Bewohnern Gilgats vielleicht noch bekannten Lied.
"Es sind jetzt mehr als 1000 Tage
seit du aufgebrochen bist.
Und noch mehr als 100 Stunden
bis der Schlaf dir sicher ist.
Egal wie sehr du hadern magst,
mit diesem Jetzt und Hier.
Die Antwort, die du suchst, liegt noch vor Dir.
Geh diesen Weg.
Dreh nicht wieder um.
Geh ihn bis zum Schluss.
Ein Weg der gegangen werden muss.
Es ist nicht mehr weit.
Geh noch dieses Stück.
Und lass dich bitte nicht zurück."
Es war das Lied eines in vielen Tavernen bekannten Barden, der noch zuletzt mit seiner Stimme die Straßen mit Hoffnung und Mut füllte. Doch nun füllt dieses Lied die wabbernden Schatten der Nacht, die langsam von Delvans Feuer vertrieben werden.
Die Stimme der Gestalt verstummt, doch wenige Momente später kommen zwei weitere Schatten zu ihm auf die Mauer. Sie stellen sich neben ihn und es scheint, als wenn die eben noch singende Gestalt die andere am Kragen packt und vor sich zerrt.
"Bei Sturmgewalt und Regen,
lauf auf neuen Wegen.
Kopf hoch – Neuer Wind kommt von vorn.
Stemm dich fest dagegen.
Wer nicht kämpft hat schon verloren.
Neuer Wind kommt stets von vorn."
Die letzte Strophe erfüllt die Luft als die ersten Sonnenstrahlen die beiden Gestalten treffen und sie der Dunkelheit entreißen. Diejenigen unter den Gilgatern mit guten Augen können erkennen, dass es sich bei der singenden Gestalt um den vermummten Drakha handelt, der sich in diesem Moment wieder den Stoff vor das Gesicht zieht. Die andere Person bei ihm scheint ein normaler Bürger zu sein, dessen Arme auf dem Rücken zusammengebunden sind und Stoff seinen Mund knebelt.
Die letzten Worte des Lieds sind noch nicht ganz verklungen, als das Katzenwesen seine Asnivala zieht und dem Mann unsanft den Stoff vom Mund reißt. Vielleicht sind es ein paar Minuten, vielleicht aber auch nur ein paar Augenblicke bis ein lauter, zerreißender Schrei des puren Schmerzes den frischen Morgen durchzieht. Langsam bohrt sich die Schneide des Schwertes in den Rücken des Mannes und es scheint so, als wenn sich der Drakha alle Zeit der Welt dabei lassen würde. Erst als die blitzende Klinge aus dem Brustkorb des Bürgers hervor schaut, zieht der Krieger diese mit einem schnellen Ruck wieder heraus. Der schlaffe Körper will zusammenbrechen, doch selbst dies wird ihm nicht verwehrt. Ein starker Tritt in den Rücken befördert den Mann über die Mauer und hinter den hohen Barrikaden der Bestien ist nur noch das dumpfe Aufschlagen eines Körpers zu hören.
Langsam, fast in Zeitlupe steigt das vermummte Katzenwesen auf den Rand der Mauer und blickt auf die in einiger Entfernung stehenden Verteidiger der Stadt. Die Strahlen Delvans umhüllen von hinten seinen Körper und diejenigen, die schon vom Untergang Gilgats überzeugt sind, könnten meinen, die Götter selber hätte sich auf die Seite der Bestien geschlagen...
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