[Teil 2] DIE NACHT ZUVOR: Der nächtliche Callisjio-Ritus (Untermarkt)
In der Nähe des Hafens beginnt sich eine kleine Prozession auf den Mauern, die den gigantischen Gefängnisturm umringen, zu bilden. Sie sammelt sich schließlich an jenem Punkt, welcher exakt über dem verschlossenen, schweren Eingangstor, das durch die Mauer hindurchführt, liegt, auf einer größeren, von steinernen Zinnen umrankten Ebene. Es sind wenige Personen, die Fackeln in ihren Händen tragen und einstimmig monotone Worte vor sich hin murmeln, als würden sie jemanden beschwören. Ihre festen, peitschenden Stimmen hallen durch die Gewölbe des Turmes und werden von Sanikas Atem bis auf den Unteren Markt getragen, wo sie über die leeren Plätze wie Sprechchöre von Dämonen scharf anheben, um dann unheimlich vernebelt, zu verebben. Legenden erzählen davon, dass manche Seelen von Hingerichteten aus dem eisigen Reiche Yoroms zurückgekehrt sein sollen, um von ihren Qualen zu erzählen und sie wieder und wieder im Reich der Lebenden zu durchleiden. Schmerzenschreie sollen manchmal aus dem Wasserloch des Turmes bis in die Zellen der obersten Ebenen zu hören sein. Schreie, durch welche Knochen bersten und Herzen aufhören, zu schlagen, wie man erzählt. Gequälte Rufe, die selbst quälen. So wie Yoroms eisige, dürre Finger die Leiber der Menschen durchbohrt, um sie zu sich zu holen, schier noch schlimmer.
Die Fackelträger auf der steinernen Mauer, welche die Vorhut des eigentlichen Baues darstellt, beginnen die Flammen über ihren Köpfen unaufhörlich hin und her zu schwenken und verstummen plötzlich, als wären sie nie zu hören gewesen. Nur das flackernde Licht, das vom Gestein verschluckt wird, tänzelt weiter in die Nacht hinein. Dann erhebt sich eine Stimme und beginnt in fahlem, tiefen Tonfall Sätze aus dem von den Mondrai verehrten Werk „Nocsantàn Callisjio“ zu rezitieren.
"Und ihre Schädel wurden durchbohrt von der eisernen Fahnenstange, sodass sich die am Boden liegende Flagge mit Blut gänzlich durchtränkte. So heißt es von der Heiligen Kriegerin Callisjio."
Wieder erhebt sich der laute, gespenstische Gesang, der allmählich langsamer wird, allerdings nicht leiser und schließlich fast zum Stillstand kommt, ehe er abbricht.
"Ihre Schädelsplitter rammte sie durch ihre Waden, sodass daraus kaltes Blut zu fließen begann. So heißt es von der Heiligen Kriegerin Callisjio."
Der Gesang setzt abermals in vollem Klang ein und verebbt, diesmal bereits wenige Augenblicke danach.
"Und als sie ihnen das das Haupt gänzlich abgetrennt hatte, lachte sie und die Götter freuten sich über ihren Triumph, denn Ihre Feinde waren tot. So soll es auch heute sein, wie bei der Heiligen Kriegerin Callisjio."
Stille. Selbst Telara Vreman Yecanta Mondrijianjar wäre vermutlich von der Präzision dieser Inszenierung ergriffen gewesen, die ganz offensichtlich Züge bestimmter Mondrai-Riten trägt. Die Gruppe steht regungslos über der verschlossenen Pforte. Das Tor darunter öffnet sich und in der Dunkelheit vor der Mauer scheint plötzlich ein geschäftiges Treiben einzusetzen. Einige Uniformierte platzieren sich vor, einige hinter dem Tor. Andere preschen hinaus in die finstere Nacht. Die Fackelträger senken das Feuer, das zuvor noch über ihren Köpfen flammte, und halten es nun in einigem Abstand vor die ihre Brust. Die Stadt Estichà, ihr Reichtum und ihre Gesetze werden oben auf dem Wall inzwischen besungen. Nach einiger Zeit erscheinen die ausgesandten Wachen wieder aus der Nacht. Der Gesang auf die Stadt dauert an. Es scheint beinahe so, als hätten sich die Ausgesandten vermehrt. Riesige hölzerne Karren werden hinter den Mauerwall gezogen. Darauf sind Räder, Holzböcke, Metallgitter und schwarze, eiserne Kessel sowie Kurbelwinden und anderes Gerät im glimmenden Licht der Fackeln zu sehen. Die Wachen sowie die sonderbaren Geräte werden vom Tor, das sich hinter der Meute sogleich schließt, verschluckt. Alsdann erlöschen auch die Fackeln und der leidenschaftlich brennende Gesang, als wäre nichts gewesen. Am Morgen werden vermutlich einige der Bewohner über Albträume zu klagen haben. Albträume, denen sie vielleicht näher sind, als sie es ahnen, so sie die Gesetze der Stadt nicht achten.
Als wäre dieses sonderbare nächtliche Treiben von den Göttern geplant gewesen, wird am nächsten Tag bereits schier überall erzählt, dass der Wirt des Meerdrachen zum Verhör in den neu ausgestatteten Turm gebracht werden soll. Ein zweites Mal gerät so der Turm in den Mittelpunkt des Geschehens. Zu lange haben die Bürger Estichàs ihn kaum wahrgenommen. Nun scheint er sich bemerkbar zu machen, als hätte er ein dämonisches Eigenleben entwickelt.
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- Razzia im Meerdrachen - Stadtwache von Esticha, 11.04.2010, 13:04 (Untermarkt)
- Entsetzen - YYDM, 11.04.2010, 13:35
- [Teil 1] DIE NACHT ZUVOR: Der nächtliche Callisjio-Ritus - Der Turm, 11.04.2010, 13:52
- [Teil 2] DIE NACHT ZUVOR: Der nächtliche Callisjio-Ritus - Der Turm, 11.04.2010, 13:54
- Verwundert... - Yeval, 11.04.2010, 14:19
- Verwundert... - Stadtwache von Esticha, 11.04.2010, 16:22
- Razzia im Meerdrachen - Naveya, 11.04.2010, 14:27
- Weinend... - Naveya, 12.04.2010, 17:34