Estichà Unterer Markt

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[Teil 1] DIE NACHT ZUVOR: Der nächtliche Callisjio-Ritus (Untermarkt)

Der Turm @, Sunday, 11. April 2010, 13:52 @ Stadtwache von Esticha

Die Dämmerung zieht über die Hafenstadt Estichà wie ein unliebsamer Geist. Das Treiben am Unteren Markt lässt nach. Die Dunkelheit schleicht sich allmählich wie ein Dieb durch die Gassen. Der Wind, der vom Metchà mit sanftem Brausen herniederzieht, trägt die Finsternis zuerst in die Ecken schmaler Gebäudevorsprünge, dann auch auf die Straßen selbst, wo sie wie ein heimlicher Nebelschleier allmählich alles in ihrer schier undruchdringbaren Dunkelheit erstickt. Es scheint an jenem Tag beinahe so, als wäre es Sanikas Atem selbst, der die Nacht unaufhaltsam herbeifegt. Sie nimmt vor nichts halt, weder vorm Stadttor noch vor dem Himmelsgewölbe selbst. Nur einige Fackeln und das diffuse Licht, das vereinzelt aus den Häusern dringt, kämpfen hier und da gegen die finstere, unbehagliche Umwölkung, durch welche das sterbende Himmelsfeuer mit Füßen getreten wird, bis es leblos am Boden erstickt darniederliegt und sehnsüchtig auf seine Auferstehung harrt, die vielleicht am nächsten Morgen, so wie man es gewohnt ist, geschehen wird, so Hostinos den armen Seelen Estichàs gnädig ist. Die Händler haben längst ihre Waren auf Karren verladen oder versperrt. Einige liegen wohl auch schon im Bett und träumen das ihrige. Beinahe alle Markstände sind abgebaut und der Platz des Unteren Markes ist wie verwandelt. Verwandelt in einen unheimlichen Ort, der nach seinem verdienten Schlaf lechzt. Die Farben verschwinden. Hier und da leuchten in finsteren Ecken glimmende Punkte wie rote Augen auf, die schon ehe sie erschienen sind wieder mit einem leisen Rascheln in den Büschen verschwinden. Wie eine dicke Pechschicht beginnt das schwarze Nichts alles zu überdecken und zur bestimmenden Farbe zu werden. Es übertüncht wie ein seidiger, kalter Schleier mit seiner gierigen Ummantelung alles, was gerade noch vor Augen war. Dort wo tagsüber noch Lärm und buntes Treiben herrschte, ruht nun die Nacht, die schon selbst etliche Spelunken erfasst, in der sich Diebe und Herumtreiber des späteren Abends vergnügten. Es scheint, als wäre die ganze Stadt gestorben und alle Lebewesen mit ihr. Als hätte Estichà den Segen Hostinos’ verloren und würde vergessen bleiben und nie mehr erwachen.

Doch man täuscht sich. Ein Ort scheint gerade erst jetzt von Leben erfüllt zu werden. Ein Ort, der normalerweise gemieden wird und an dem man zumeist nur unfreiwillig und in Ketten gelangt. Ein Ort, in dem Jammer und Qual zuhause sind, erstickende Schreie und stinkende Blutlachen, in denen sich die blutroten Bächlein, welche aus abgetrennten Gliedmaßen entspringen, ansammeln. Es ist ein Ort, den man häufig aus dem Gedächtnis streicht, der aber seit jeher Bestandteil der Stadt ist. Er ragt mit über 60 Vat Höhe gen Himmel, sodass man meinen könnte, er hätte das Gewölbe bereits mit seiner Spitze erreicht. Dieser Ort, an dem sich in der heutigen Nacht etwas ganz Sonderbares ereignet, ist zum Schutz der Bürger mit einer dicken Mauer aus hartem Gestein umfriedet. Es ist der Gefängnisturm, der häufig nur ‚Turm’ genannt wird. Wer schon einmal dort war, weiß, weshalb man ihn häufig aus dem Gedächtnis und aus der alltäglichen Wahrnehmung streicht. Man munkelt, dass ein neuer Wind durch die Zellen und Kellerräume, in denen sich der grausige Al-Gandhi-Trakt befindet, in denen immer noch Leichen verwesen und die Zellen mit ihrem feuchten, süßlichen Geruch erfüllen, wehen soll. Vieles soll sich dort in den letzten Wochen verändert haben. Manches Mal soll sich in der Nähe des Turms das Meerwasser rot verfärbt haben, munkeln ältere Fischer. Was wirklich bei Verhören im Turm geschieht, wissen wohl nur die wenigsten. Und alle die es nicht wissen, sind froh darüber, es nicht wissen zu müssen. Auch wer sich überhaupt in diesen alten, feuchten Gemäuern befindet, ist im Allgemeinen unbekannt. Nicht jeder Prozess wird öffentlich wahrgenommen. All dieses Wissen ist eines, das man nicht unbedingt entbehrt.

[es folgt Teil 2]

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