Die zweite Welle
Noch gaffen die meisten Leute im Hafen, den Mund voll Staunen offen stehend, auf den Metcha hinaus. Das abfließende Wasser der ersten Welle hat nasse Pfützen an Orten hinterlassen, die sonst nur bei Regen benetzt werden. Ein nur wenig mit Verstand gesegneter Hafenarbeiter, der dagegen für ein gerüttelt Maß Gerissenheit bekannt ist, schnappt sich schnell einen Eimer. Mit eiligen Bewegungen sammelt er die sterbenden Fische auf, die hier und dort auf dem Trockenen zappeln. "Ein Geschenk von Nestor!" brüllt er freudig und wedelt mit dem Fisch in seiner Hand. "Ein Geschenk von Nestor!"
Doch schon im nächsten Augenblick verstummt der arme Mann. Denn vom Metcha kommt ein Geräusch wie von Kies und Geröll, das immer schneller werdend einen Hang hinunter rutscht. Kaum am tiefsten Punkt angekommen heben sich auch die Schiffe schon wieder. Die Geschwindigkeit lässt ahnen, dass sie diesmal noch höher aus dem Hafenbecken gehoben werden als zuvor.
Das seltsame Geräusch des herannahenden Wassers ist in der gesamten Stadt zu hören und vielerorts werden die Leute in ihrem täglichen Tun innehalten. Mancher wird herüber sehen in Richtung des Hafens. Aber diejenigen die näher bei der Zitadelle sind schauen eher besorgt auf die Steilwand, die sich dahinter erhebt, und die das Geräusch wie ein treuer Bruder als unverfälschtes Echo zurückwirft. Besonders Eilige oder besonders Ängstliche beschleunigen sodann ihre Schritte um von der vermeintlichen Quelle des Geräusches fort zu kommen - besonders Neugierige oder Furchtlose dagegen bleiben noch eine Weile stehen und diskutieren, was für ein Geräusch das sein mag.
Am Hafen gibt es über den Ursprung des Geräusches keine Zweifel. Es ist diese Welle, die da auf Vorovis zu rast und die mit jedem Vat die sie sich nähert an Höhe zu gewinnen scheint. Panik bricht aus und jeder Mensch mit klarem Verstand kehrt diesem Monster den Rücken und rennt was das Zeug hält vom Hafen fort. Doch so schnell sie auch rennen - das Wasser ist schneller. Einige flüchten in Häuser und auf Dächer, doch dann ist das Wasser bei Ihnen und brandet gegen die Mauern wie der jährliche Sturm gegen den provisorischen Unterstand eines Poraca-Hirten. Während die Schiffe im Hafen sämtlich von ihrer Vertäuung losgerissen werden oder in dem über sie hereinbrechenden Wasser versinken, knickt die erste Gebäudereihe am Hafen unter dem Ansturm der Berge aus Wasser ein.
Nur der Tempel des Nestor trotzt den Urgewalten des mächtigen Gottes - so es denn wirklich Nestors Werk sein sollte, dessen Vorovis hier ansichtig wird! Doch für philosophische Betrachtungen bleibt keine Zeit! Wer weniger als 100 Vat von der Hafenkante fort ist, bekommt nasse Füsse und muss sich später darüber Gedanken machen, welchem Gott er dafür danken kann. All jene aber, die nicht mindestens 30 Vat zwischen sich und das Hafenbecken bringen konnten, verlieren jeglichen Halt in den stürmenden Wassermassen.
Der Metcha schwemmt sie auf und drückt sie unter, schleudert sie umher wenn das Wasser um dunkle Häuserecken in enge Gassen strömt und spielt mit ihnen wie ein kleiner Junge, der ein wehrloses junges Charababy in eine große Regetonne wirft.
Einen kurzen Augenblick schweigt der Metcha, nur die Hilferufe und Angstschreie der Menschen dringen durch sowie das Wimmern der niederen Wesen, der Felligen und verwachsenen, für die das Wasser ebenso einen Feind darstellt, wie für die aufrichtigen Vorovisen. Doch dann zieht sich die nasse Hand des Metcha zurück und wer sich bis jetzt in den Strudeln noch aufrecht halten konnte, den reißen nun die Schränke und Bänke, Tische und Truhen, Bretter, Eimer, Türen und nicht zuletzt die leblosen Körper anderer hilfloser Bewohner der Stadt um, lassen auch ihn einen tiefen Zug vom brackig öligen Geschmack des abfließenden Wassers nehmen.
Das malmende Geräusch der alles vernichtenden Woge grollt wie dumpfer Donner durch die Stadt, abgerundet von einem vielstimmigen Chor der Ertrinkenden und unterlegt vom beinahe rhythmischen Schlagen der großen Schiffe, die nun wie Korken in einem Eimer mal hier mal dort gegen Wände, Mauern und Häuser schlagen. Sie setzen sich wenn das Wasser unter dem Kiel zu wenig wird und zerdrücken unter sich die Häuser, von deren Dächern man einst gerne nach Norden schaute um diese stolze vorovische Flotte ausfahren zu sehen.
Doch dort im Norden liegt jetzt etwas anderes: Eine Bedrohung deren Macht Vorovis bisher nicht gekannt hat. Eine fremde Macht, die mit den Fingern des Wassers den Weg erprobt hat, der sie bis zum Herzen der Stadt tragen soll. Sie macht sich bereit für den entscheidenden Schlag und wer noch Muße hat zu lauschen, der mag in der Ferne das leise Trommeln und Singen hören.