gebrandmarkt, vernarbt, trügerisch: Der Ianuskopf der Stadt (Untermarkt)
Während in der Oberstadt das gleissende, übernatürlich fremde Licht wie eine Flut kältesten Silbers die Straßen Tag und Nacht leuchten lässt, die vorbei an Tempeln und Regierungsgebäuden führen, ist in der Unterstadt und dem Rest der Stadt zufuße des Tafelsbergs das Leben zwar nicht weniger bunt und brodelnd als zuvor, aber doch gefährlicher und weniger glanzvoll geworden. Dort, wo einst die Neue Wache und der Stolz der ganzen Stadt stand, ist nun ein leerer Platz. Hier, so erinnern sich die Einheimischen, stand einst eine verfluchte Apotheke, die von der Stadtwache zerstört wurde, um auf ihrem Platz ein eigenes Prunkgebäude zu errichten. Manche munkeln, dass die Götter Hybris nicht gerne sehen, andere sehen den Fluch des damaligen Apothekers noch über dem Platz liegen - oder sollte es Zufall sein, dass dieser erst neulich als diplomatischer Vertreter des ungeliebten Vorovis wieder in Erscheinung trat, ein Vorovis, zwar gebrochen, aber noch stolz, welches nun wie Paria vor der Stadt kauerte, nur auf eine Schwächung des elurischen Reiches lauernd?
Auch der Jhoulanatempel wurde im Krieg bis auf die Grundmauern von herabtosenden Geröllmassen zerstört. Die Priesterschaft hatte nun ein Wohnhaus in der Oberstadt angemietet, und empfing dort in für klerikalen Verhältnissen einfachen Maßstäben Gläubige und Hilfesuchende. Dass gerade die Liebesgöttin ihr Haus in der elurischen Metropole verloren hatte, gehörte nur zu den weiteren bitteren, ironischen Spitzen, die sich das Schicksal für die tapfere Menschenstadt im Westen Mradoshans ausgedacht hatte.
Zwischen all diesen Trümmern gab es auch Zeichen der Hoffnung - gewiss, ein großes Bauprojekt der Regierung liess in vielen die Ahnung einer baldigen Linderung der Wohnungsnot gedeihen, gewiss, noch immer gab es Prunk, während neben den marmornen Säulen Obdachlose und Versehrte bettelten, Kinder die den Pilgerern, die aus der Allianz eintrafen, um das göttliche Licht zu bewundern, seltsame Erinnerungsstücke zum Kauf anboten,und ihnen dabei die Geldkatze vom Gürtel stahlen. Doch wer hiervon schon angewiedert war, wer nicht wusste, wie er seinen Reichtum des tags schützen sollte, und nur noch in Begleitung von angedienten Söldnern den Markt betrat, der schloss sich des Nachts erst recht ein.
Besonders in den einfacheren Gebieten Estichàs war die Dunkelheit Vesanas zugleich der Deckmantel ihrer Schergen, die sich oftmals selbst als Opfer verstanden, manchmal aber auch nur Profiteure der allgemeinen Not waren oder Handlanger anderer Mächte, die sich selbst nicht in den Vordergrund zu drängen trachteten.
Estichà - einst die Krone menschlicher Besiedlungen am Metchà, war zu einem trügerisches Moloch geworden, in welchem Glanz und Elend Tür an Tür lebten. Während Tempel und Villen, Prunkbauten und Vergnügungen genug Gelegenheit boten, sich von dem Elend abzulenken, wenn man denn genügend Muße und Kleingeld dazu hatte, war dieses Elend, das Moloch das Brot der kleinen Leute und ihr Schicksal. Wer hier gut oben bleiben, beißen und kämpfen konnte, konnte es zu viel bringen - und oben dann, wenn er nicht achtgab, wieder fallen. Wer sich hier nur in Stromrichtung treiben liess, liess dem neuen Estichà die Entscheidung, was mit ihm passieren würde. Wer war diese Estichà, diese eigenartige Geliebte manch eines Seemanns, dessen Schiff nun auf ewig vertäut im Hafen zu liegen schien, seitdem die Sragon die Seewege besetzt hatten?
"Wir sind in einer Großstadt gestrandet, und wünschten, es wäre eine Insel. Es ist das Tor zum Paradies, zu dem wir keinen Schlüssel besitzen. Es ist ein Garten, in dem man nicht weiss, welche Frucht köstlich, und welche giftig ist."
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- gebrandmarkt, vernarbt, trügerisch: Der Ianuskopf der Stadt - Estichà, 20.06.2013, 11:17 (Untermarkt)