Gedenken (Untermarkt)
Still ist dieser Morgen, die Arbeit ruht in dem sonst so geschäftigen Lager der Vorovisianer. Der hüfthohe steinerne Sockel vor den Grabhügel ist verputzt, drei Masten dahinter in den Boden gerammt, das Gras über den Gräbern gemäht. Der ganze Tag vergeht in Stille, erst am frühen Abend, als das Himmelsfeuer schon am Verlöschen ist, marschiert eine Abteilung Soldaten aus dem Tor. Gemessen marschieren sie zu den Grabhügeln und nehmen bei den Masten Aufstellung. Ein Kommando ertönt und langsam steigen drei Fahnen in den Abendhimmel hoch. Als die Flaggen gehißt sind, nimmt die Abteilung Haltung an und verharrt bewegungslos und stumm. In dem Augenblick, als das Himmelsfeuer erlischt, beginnen Trommeln zu dröhnen, dumpf und gemessen, im Gleichmaß traurigen Stolzes, mit dem Vorovis seit Jahrhunderten seine Helden zur letzten Ruhe geleitet. Soldaten die Fackeln tragen marschieren in Zweierreihe aus dem Tor und nehmen Einer nach dem Anderen zu beiden Seiten des Weges bis zu den Gräbern Aufstellung. Drei Hostinospriester in rein weißem Ornat führen den Zug an, durch die Allee aus Feuer, gefolgt von den Mitgliedern der Reichsregierung im Exil und einigen hohen Offizieren. Es folgt der Trommlerzug und dahinter die gesamte Bevölkerung des Lagers. Als der letzte Bewohner durch das Tor getreten ist, setzt sich auch die Doppelreihe der uniformierten Fackelträger in Bewegung und flankiert den Zug bis zu den Gräbern. Die Trommeln schweigen erst, als sich die Soldaten zu beiden Seiten der Gräber formieren und die Lagerbewohner aufgeschlossen haben. Für einen Moment herrscht Stille, in der das Knistern der Fackeln zu hören ist. Dann ein Kommando und wie ein Mann nehmen Offiziere und Soldaten Haltung an und erweisen den Gefallenen mit militärischen Salut die Ehre. Die Hostinospriester entzünden auf dem gemauerten Altar ein Lampe und dann beginnt der Ranghöchste unter ihnen einem einfachen, aber feierlichen Ritus der die Seelen der Gefallenen dem Schutz des Allerhöchsten anempfiehlt. Die Stimmen der Priester erfüllen die Nacht mit dem feierlichen Wechselgesang, der den Göttervater um seine Gnade für Vorovis und die Gläubigen anfleht. Nach dem Segen für Gefallene und Volk treten die Priester zurück und machen Platz für den Statthalter. Dessen Trauerrede ist kurz, einfach und ernst. Schnell kommt er zum Wesentlichen: „ Mit schwerem Herzen stehen wir hier auf fremden Boden, in der dunkelsten Stunde unserer Geschichte, um derer zu gedenken, die gefallen sind, damit Vorovis lebe. Doch dies ist nicht nur eine Stunde der Trauer, dies ist die Stunde in der wir aufgerufen sind, uns des Opfers unserer gefallenen Vorfahren, Kameraden, Verwandten und Freunde würdig zu erweisen. Aus ihren Händen empfangen wir die heilige Flamme, die so hell in ihnen brannte, um sie eines Tages weiter zu reichen, an unsere Kinder und Kindeskinder, denn solange diese Flamme lodert, ist Vorovis nicht verloren, es lebt in uns und unseren Taten. Besinnen wir uns ihrer, damit wir Kraft aus ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit schöpfen, damit wir nicht wankend werden unter der Last, die uns der Allerhöchste zugemessen hat. Gedenken wir ihrer im Wissen, daß nun wir aufgerufen sind, um unsere Pflicht zu erfüllen. Laßt uns in ihrem Angesicht zusammenstehen, vereint in Treue und festen Glauben, damit Vorovis lebe! Hört unseren Schwur und ruht in Frieden!“
Einen langen Augenblick verharrt der Statthalter in tiefer Verbeugung und mit ihm alle Vorovisianer in Zivil. Soldaten und Offiziere erstarren im Salut während das Licht der Fackeln die Schatten tanzen läßt.
Flammen
Es ist Sitte in Vorovis zum Gedenken an Verstorbene ein Licht zu entzünden und so geschieht es euch heute. Geduldig warten die Menschen, bis sie ihre Öllämpchen oder Kerzen an der Flamme entzünden können, die auf dem einfachen Altar brennt. Schon flackern dutzende kleine Flämmchen auf den beiden Grabhügeln als eine Frau vor das Grab tritt, daß die Asche ihrer beiden Söhne birgt, die in der Schlacht vor den Toren Estichas gefallen sind. Behutsam stellt sie die kleine Öllampe ins Gras und verharrt gramgebeugt und stumm. Sie kämpft mit den Tränen, die sie nicht weint, wie es die Traditon erfordert. Mit einer zärtlichen Geste streicht sie über das Gras und erhebt sich. Für einen Moment verharrt sie noch still, dann wendet sie sich zum Gehen. Doch dann stockt ihr Schritt. Zögernd wendet sie sich um, doch dann kehrt sie zurück an das Grab. Behutsam und doch entschlossen, nimmt sie die brennende Lampe an sich und birgt sie in der Wölbung ihrer Hände. Aufrecht, den Kopf erhoben, trägt sie das Licht vor sich her, den ganzen Weg zurück bis zum Lager. Zuerst sind es nur wenige, doch bald ist es ein Strom aus Lichtern, der die sanfte Steigung zum Lager hinauf flutet, bis das Lager schimmert, wie eine Insel aus Licht im Meer der Nacht.