Flüchtlinge am Tor (Untermarkt)
Der Ring des Delvan beginnt gerade das leidgeprüfte Land zu erhellen. Nichts erscheint mehr wie es war - weite Landstriche sind leergefegt, und trotzdem lässt der Zustrom an Flüchtlingen aus nah und fern nicht nach, die die Stadt Estichà erreichen, der letzte Fels in der Brandung, die Rettung vor der Bedrohung, die keiner eigentlich richtig benennen kann, die jedoch in jeder Röhrenseele Angst und Schrecken hervorruft. Und so gibt es auch an diesem Tag bereits einige wenige, die in der Nacht angekommen sind und nun, als die Wache die Tore öffnet, um die Flüchtlinge, deren Estichà eh schon zu viele hat, einzulassen - auf der Suche nach Sicherheit, einem neuen Glück und einem neuen Leben.
Inmitten dieser kleinen, recht heterogenen Gruppe, die auf Einlass wartet, befindet sich ein klappriger Karren. Das Holz ächzt bei jeder kleiner Erschütterung, und ein Rad eiert dermaßen, dass man stets befürchten muss, dass es jeden Moment abfiele. Gezogen wird der Karren von einem Karkech - ein armseliges Gestell, abgemagert bis auf die Knochen und von anscheinend biblischem Alter, das sich jedes Mal, wenn der Wagen anfährt, tüchtig ins Zeug legen muss. Und dies, obwohl der Weg praktisch eben ist und der Wagen selbst keine große Last darstellen sollte. Große Waren und Besitztümer befinden sich wohl keine darauf, einzig ein recht ungleiches Paar sitzt auf dem Bock.
Da ist zum einen ein Mann von untersetzter Statur. Das kurze, schwarze Haar klebt ihm förmlich in fettigen Strähnen am Kopf. Er hat sich wohl seit Tagen nicht rasiert und höchstwahrscheinlich auch nicht sonderlich gewaschen. Seine Kleidung ist einfach, alt und schmutzig. Auch sonderlich hübsch ist er keinesfalls, ja, manch einer würde ihn geradzu als abstoßend beschreiben. Neben ihm sitzt eine junge Frau, und so hässlicher der Mann erscheinen mag, so hübsch ist seine Begleiterin. Das lange, schwarze Haar hängt über ihre Schultern, sie hat ein ebenmäßiges Gesicht und glänzende, schwarze Augen mit etwas traurigem Blick. Sie trägt ein Kleid, so wie es bei den Schankmaiden der Röhre oft zu sehen ist: einen rotbraunen Rock, unter dem zwei Füße bar jeder Schuhe hervorschauen, dazu ein Mieder in der gleichen Farbe, straff gezurrt, dessen Träger nah am Hals über die relativ breiten Schultern gehen. Eine weiße, schulterfreie Bluse lugt ober dem Mieder hervor, das den Busen mehr anhebt als verdeckt. Die Bluse selbst ist mit einer weißen Kordel zu verschließen, doch ist diese so locker, dass der Ansatz der wohlgeformten Brüste gut zu sehen ist.
Die Götter selbst mögen wissen, was die junge Frau bei dem hässlichen Mann hält, doch haben die anderen Wartenden ganz andere Probleme als das Privatleben zweier völlig Unbekannter. Und so stehen sie alle da, geduldig, mancher vollgepackt mit Habseligkeiten, mancher nichts als dem nackten Leben, mancher mit Karren, Kutsche oder Reittier, und viele auch einfach zu Fuß, darauf wartend, dass die Wachen die notwendigen Formalitäten erledigen um ihnen allen Einlass zu gewähren in eine neue Heimat, die wohl die Wenigsten freiwillig gewählt haben, die jedoch für alle ersehnenswerter denn je erscheint.
Flüchtlinge am Tor
Wie auch alle anderen Flüchtlinge stehen der Mann und die Frau nach der Kontrolle durch Torwache und Priester vor einen Beamten der Stadtverwaltung.
"Sichàra." Grüßt der Unuim knapp. "Habt ihr die Möglichkeit privat unter zu kommen, oder wollt ihr erst mal im Flüchtlingslager Quartier beziehen?"
Flüchtlinge am Tor
"Meine Frau und ich kennen niemanden in der Stadt. Da müssen wir wohl in dieses Flüchtlingslager von dem ihr da sprecht." erwiedert der Mann und legt der Schönheit neben ihm in einer besitzergreifenden geste den Arm um die Schulter. "Das ist besser als in der Gosse zu schlafen, nicht Selia? Und geselliger sicher auch." Bei diesem Satz grinst er dreckig, als würden die Worte und Tatsachen seine Fantasie anregen.
Flüchtlinge am Tor
Etwas zaghaft lächelt die Angesprochene, und ihr Oberkörper geht unwillkürlich von ihrem Begleiter weg. Doch nickt sie zustimmend, bevor ihr Blick zu der Torwache geht, kurz nur, dann verliert er sich gedankenverloren irgendwo am rechten Rand des Weges.