Geduld: eine Tugend und ein Fluch (Untermarkt)
Seit einigen Tagen sieht man am frühen Abend, jedes Mal zur gleichen Stunde, eine junge Frau am Hafen. Sie sitzt auf einer Kaimauer, die Beine mit den Armen umschlungen und den Kopf auf den Knien gebettet. Aus dem schmalen, blassen Gesicht blicken dunkle, umschattete Augen auf den Metchà, starren offensichtlich ins Leere, den eigenen Gedanken nachhängend. In stoischer Geduld harrt sie dort aus und rührt sich kaum, während der leichte Seewind ihre kurzen Locken und ihre Kleidung zerwühlt. Doch sobald Bewegungen am Horizont sichtbar werden und ein Schiff, oder Boot sich anschickt in den Hafen einzufahren, geht ein Ruck durch den Körper der Falknerin. Ihr Kopf schnellt hoch, die Augen legen sich auf die nahenden Segel, erwartungsvoll, hoffend, nur um anschließend resigniert wieder herab zu sinken und wieder in ihre Starre zu verfallen. So pünktlich wie sie jedes Mal am Hafen erscheint, so zeitgenau beendet sie die offensichtlich erfolglose Warterei auch wieder. Steifbeinig erhebt sie sich nach einer geschlagenen Stunde, um mit verschlossener Miene und hochgezogenen Schultern in Richtung Vochà Sutras zu entschwinden.
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- Geduld: eine Tugend und ein Fluch - Lynelle del Sadi, 29.05.2010, 19:30 (Untermarkt)