Estichà Unterer Markt

zurück zur Hauptseite
linear

Ein mradoshanisches Märchen (Untermarkt)

Fabula Docet @, Saturday, 09. May 2009, 15:38

Eine Gestalt geht über den Marktplatz. Der lange Mantel ist aus verschmutztem Leinen. Gebückt bewegt sich die rundliche Figur durch den Mittagstrubel. Schließlich setzt sie sich etwas abseits vor ein Haus. Schon bald bleiben ein paar Straßenkinder vor ihr stehen. Ihre Stimme ist die einer alten Frau, aber sie spricht freundlich und lädt die Kinder ein, bei ihr zu bleiben, denn sie wird ihnen eine Geschichte erzählen...

"Es war einmal vor langer Zeit ein junges Mädchen namens Jhouyona. Sie war das liebste Töchterlein eines reichen Mannes aus Ashrabad. Jeden Tag machte er ihr ein neues Geschenk, denn sie war sein Augenstern und das Schönste, das er besaß. Doch war das Mädchen aber recht faul und ungeduldig. Stets verlangte es nach noch größeren, noch schöneren Geschenken. Der Vater in seiner Güte bemühte sich nach Kräften, ihr die außergewöhnlichsten Präsente zu bieten, doch war es nie das, was sie sich wirklich wünschte. Nichts konnte ihr Verlangen stillen, und so war sie jeden Tag aufs Neue unzufrieden."

Mehr Kinder versammeln sich vor der alten Geschichtenerzählerin, setzen sich auf die Straße und hören gebannt zu.

"Über die Jahre wuchs Jhouyona zu einer schönen jungen Dame heran. Ihr langes Haar war schwarz wie Vesanas Schleier, ihre Lippen waren blutrot wie die von Jhoulana selbst und ihre Augen funkelten wie der Metchà im Abendrot. Der Vater verehrte sie umso mehr, da sie das schöne Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter geworden war. Nun erregte das Mädchen nicht nur seinen Wohlgefallen, sondern wohl auch den vieler feiner Herren in der Stadt. Und sie kamen und warben um Jhouyona. Sie sangen Lieder vor ihrem Fenster und flochten ihr feinste Gestecke aus Lantis. Sie überschütteten Jhouyona mit Geschenken, doch nichts vermochte ihr Herz zu erfreuen. Sie besaß so vieles und kannte doch das Glück des Lebens nicht. Ihr Vater aber erkannte dies und beschloss, ihr zum Glücke zu verhelfen. Die wahre Liebe war das Geschenk, das er ihr zugedachte und für sie zu finden suchte. Und so zog er aus, um jemanden zu finden, der Jhouyonas Herz zu erfreuen vermochte. Er reiste auf dem großen Strom und kam in viele Städte, doch nirgends fand er, wonach er suchte. Unverrichteter Dinge kehrte er heim zu seiner Tochter, die zu voller Schönheit erblüht war. Er wollte nicht ertragen, ihr Gesicht in Enttäuschung zu sehen, da unternahm er einen letzten Versuch. All jenen, die sich um die Gunst Jhouyonas bemühten, gab er ein Rätsel auf, damit sie bewiesen, wer von ihnen der Richtige sei. Er versammelte sie alle und trug ihnen jenen alten Vers vor, den er von seinem Großvater gehört hatte:
„Ich bin weiß wie Kreide, leicht wie Flaum, bin weich wie Seide und feucht wie Schaum.“
Da staunten die Verehrer sehr, denn von diesem Sprüchlein hatten sie nie zuvor gehört. Sie erbaten sich zwei Tage Bedenkzeit. Es war nicht lang, bis die ganze Stadt davon erfuhr, dass ein reicher Mann sein liebstes Töchterlein demjenigen zum Tanze gäbe, der ein wahnwitziges Rätsel zu lösen vermochte. Bald versuchte ein jeder, die Aufgabe zu bestehen, die augenscheinlich unlösbar war. Man fragte die weisen Alten, doch sie wussten keinen Rat. Man ließ sich kluge Bücher bringen, doch in ihnen war keine Antwort zu finden. Man rang mit Vecara, doch sie wusste ihr Geheimnis mit Kraft zu verteidigen."

Es wird lauter unter den Kindern, die auch versuchen, das Rätsel zu lösen. Die Alte weist sie nicht zurecht, sondern fährt mit ihrer Geschichte fort.

"Als am Morgen des dritten Tages die halbe Stadt vor dem Haus des Vaters versammelt war, da trat er vor die Menge und sprach:
„Ich gab euch ein Rätsel, für das zu lösen ihr zwei Tage erbatet. Die Zeit ist um, und so stehe ich hier zu meinem Wort und sage: Wer immer die Antwort kennt auf den Vers, soll die Hand meiner Tochter zum ewigen Tanze und Bund des Lebens erhalten.“
Da ging ein Raunen durch die Menge, denn der Preis war kolossal. Das Mädchen Jhouyona stand ihrem Vater zur Seite, in gespannter Erwartung dessen, was geschehen würde. Da wurde es turbulent, denn die Verehrer überschlugen sich in ihren Rufen. Was immer sie als beste Antwort gefunden hatten, schrieen sie dem Vater entgegen. Er hörte aufmerksam zu und gewahrte doch, dass niemand seine Prüfungen hatte bestehen können. Doch wollte er seine geliebte Jhouyona nur demjenigen geben, der stark genug war, es auch mit Vecara aufzunehmen. So aber waren seine Bemühungen vergebens, und er schickte die Leute fort. Als sich die Menge aber auflöste, da blieb ein Mann stehen. Er war von großer Statur und trug ein langes, graues Gewand aus feinem Stoff, das sein Gesicht unter einer Kapuze verbarg. Und als die Hälfte der Leute bereits gegangen war, da erhob er seine Stimme und sagte:"

Die Alte hält inne und hustet. Ein dramatischer Moment. Alle Kinder starren sie gebannt an. Wie geht die Geschichte nun weiter?

  473 Views

Ein mradoshanisches Märchen, Teil 2

Fabula Docet @, Saturday, 09. May 2009, 15:41 @ Fabula Docet

"Und der Mann sagte: „Es ist der Schnee.“
Still wurde es auf dem Platz vor dem Haus. Die Leute blieben stehen und sahen den Fremden an. Der Vater aber hatte keine andere Wahl, als den Sieg des fremden Mannes zu verkünden, denn der hatte jenes Geheimnis gelüftet, das sein Großvater ihm einst anvertraut hatte. Doch war dem Vater nicht wohl, er wollte sein liebes Kind nicht jenem Manne reichen, denn es fröstelte ihn allein bei dessen Anblick. Jhouyona aber ging ohne ein Wort zu sprechen zu ihm, um ihren Teil der Abmachung zu erfüllen. Der Mann reichte ihr die Hand und sie nahm die seine. Da sah sie in sein Gesicht, doch niemals würde jemand erfahren, was sie dort erblickte. Ohne ein weiteres Wort begannen sie ihren Tanz, ohne dass eine Kapelle ihnen spielen musste. Und die Leute standen um sie herum und sahen gebannt zu, denn so etwas hatten sie niemals zuvor geschaut. Und auch der Vater stand dabei und sah in den Augen seiner Tochter ein ungekanntes Leuchten. Da wusste er, dass sie gefunden hatte, wonach sie sich immer gesehnt. Jhouyona tanzte mit dem Fremden, bis die Nacht anbrach und alle Leute in ihre Häuser zurückgekehrt waren. Als sie am nächsten Morgen wiederkehrten, um nach ihr zu sehen, da war sie nicht mehr dort. Nie wieder hat man sie in Ashrabad gesehen.

Doch man erzählt sich, dass in mancher windstillen Nacht ein kalter Hauch durch die Stadt weht, bis zu jenem Haus, in dem Jhouyona mit ihrem Vater einst lebte, und dort beschlagen die Gläser und es zeichnen sternförmige Muster auf das Metall. In diesen Nächten, so heißt es, sieht man sie manchmal vor dem Haus im sanften Tanz mit dem fremden Mann."

Die Alte lässt einen Moment der Stille passieren, dann erhebt sie sich und wackelt langsam davon in eine der Seitengassen...

  468 Views
RSS-Feed dieser Diskussion
23988 Einträge in 5705 Threads, 129 angemeldete Benutzer, 43 Benutzer online (0 angemeldete, 43 Gäste)
RSS Einträge  RSS Threads | Kontakt
powered by my little forum