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Die ganze Nacht zerrte der Sturm an den Fensterläden und Dachschindeln der Häuser Estichàs. Durch die starke Bewölkung schien diese Nacht länger zu dauern als andere, doch schließlich kündigt das Schimmern der Morgensonne durch die Wolkendecke den neuen Tag an.
Am Morgen lässt der Sturm spürbar nach, das Schwingen der Schilder und Klappern der Läden lässt nach und auch der Regen legt eine Pause ein. Nur noch ein leichter Wind weht durch die Straßen und hin und wieder findet sogar die Sonne eine Lücke in der zum hellgrau gewordenen Wolkenflut und erhellt kurzzeitig die Gassen und Straßen der Stadt.
Schon machte sich die vage Hoffnung unter den Einwohnern der Stadt breit, der Sturm sei überwunden, aber die Wolkenfront, die sich schon seit fast einer Stunde über dem Meer in ungeheure Höhen auftürmt lässt nun selbst die einfältigsten Optimisten angstvoll den Blick nach Westen richten. Langsam frischt der Wind wieder auf und diesmal sieht es gar nicht gut aus. Es vergeht kein Herzschlag, in dem nicht Blitze einen Wolkenberg zum Glühen bringen oder eine leuchtende Brücke aus Himmelsfeuer in das Meer fährt. Man kann förmlich zusehen, wie die zerstörerische Gewalt auf die Stadt zueilt um sie mit allem was sie hat und allem was in ihr lebt in ihren unerbittlichen Schlund zu ziehen.
Binnen Sekunden schieben sich schwere, vom Sturm zerwühlte und zerfetzte Wolken vor die Sonne und tauchen Estichà in ein unwirkliches Dämmerlicht. Das Meer tost und brodelt, weiße Gischtkronen sprühen feinstes Wasser in die Höhe, das der Sturm mit sich reißt und mit seinem einsetzenden Regen vermengt. Ein Brecher nach dem andern rennt gegen die Hafenmole an, meterhohe Wellengiganten zerschellen am Stein und werfen einen Teil ihrer Wassermassen über die notdürftigen Befestigungen. Taue und Seile ächzen unter der Last der Schiffe, die an ihnen zerren, wie wilde Stiere reißen sie an ihren Fesseln.
Ohne Unterlass, ohne einmal innezuhalten heult der Orkan durch die Straßen und mit jeder Minute bangen Wartens wird er stärker und gewinnt mehr an zermalmender Kraft.
In einem geisterhaften Tanz werfen sich die Schiffe am Beginn der einsetzenden Nacht wie Leidende vor Schmerzen hin und her, werden von einer Welle in die Höhe geschoben und fallen kurz darauf scheinbar metertief in ein dunkles Wasserloch, während sich ihre Bäuche mit salziger Gischt füllen. Über die Stadt und das Land rollt von Westen her ein tiefes Dröhnen heran, ständig lauter und gewaltiger erdend, so als risse eine tödliche Bestie ihren Schlund auf. In manchen Wolkenfetzen, die sich aus der grauen Masse reißen zeigen sich gewaltige Wirbel, Blitze zeichnen irre Grimassen in die aufgewühlten Elemente, die sich nun zum letzten Schlag verbündet zu haben scheinen: mit lautem Fauchen, begleitet von einem Donner wie von Abertausenden von zermalmenden Hufen auf staubigem Boden baut sich vor der Stadt ein Gigant aus tosender Flut auf, das Haupt zerrissen und zerfetzt vom glühenden Zorn des Orkans, vom Feuer der Blitze geschürt und doch von einer tödlichen Kälte begleitet, die nicht von dieser Welt sein kann. Das Knarren der Schiffe im Hafen scheint sich in ein Schreien zu verwandeln, voller Todesangst zerren sie an ihren Fesseln, als der Wassertitan mit zerschmetternder Hand nach der Stadt greift. Lautes Krachen und Splittern erfüllt den Hafen, als die Flutwelle die Schiffe überrollt. Seile reißen als zahlreiche Schiffe gegen die Hafenmauer gedrückt werden, Ruder und Reling splittern, ganze Schiffsrümpfe werden eingedrückt, dumme, unerfahrene Matrosen, die die Seile überprüften werden von Deck gerissen und zwischen den Rümpfen oder an der Hafenmauer zermalmt; ein Blitz durchfährt den Himmel nahezu auf seiner ganze Länge und erhellt den Hafen in gleißendem Licht; In einer Kettenreaktion reißen die Taue der Kleiner Vanor, das Schiff driftet von seinem Platz, nur um Haaresbreite wird es wie ein Spielzeug am Rumpf der Goldene Lumira vorbeigespült, doch liegt das Schiff so schräg, das sich die Takelage mit der Kleiner Vanor verfängt. Mit lautem Splittern wird der Großmast der Goldene Lumira geknickt und von Deck gefegt, als die Kleiner Vanor mit hellem Knirschen schräg auf die Hafenmauer gedrückt wird. Planken lösen sich, werden vom Sturm in pfeilschnelle Geschosse verwandelt und prasseln auf die Fronten der Häuser am Hafen, zerschlagen dort Fenster oder dringen tief in die Dächer ein. Die mächtige Welle und der Sturm drücken das Schiff zur Seite, die Takelage zerschellt an der Hafenmauer, während der Schiffsrumpf zusehends unter lautem Stöhnen und Krachen seinen letzten Tribut an Vanor zollt.